Anfang 2000 riß ich von zu Hause aus und zog in ein Mädchennothaus. Doch selbst dort kamen die Betreuerinnen nicht mit mir klar, da ich mich ständig selbstverletzte. Eines Tages zog ich mir eine so tiefe Wunde zu, dass ein Rettungswagen gerufen werden musste. Dieser brachte mich dann in die Kinder- und Jugendpsychiatrie Osnabrück.
Nun möchte ich euch mal ein bißchen über meine Zeit dort erzählen.
1. Tag
Gegen Abend wurde ich in das Kinderhospital eingeliefert. Die Besatzung des Rettungswagens brachte mich zur Stationsärztin der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dort wurden meine Personalien aufgenommen und außerdem fand ein Gespräch über meinen Zustandt statt. Dann brachte mich eine Betreuerin auf meine Station. Dort war ich erst mal das einzige Kind, da die andern übers Wochenende nach Hause fahren durften. Ich wurde in ein 4-er Zimmer gebracht, wo erst mal meine kompletten Klamotten nach scharfen Gegenständen o.ä. durchsucht wurden. Da es recht spät war durfte ich dann auch schlafen.
In den nächsten Tagen wurden mir die anderen Kinder und die Ärzte vorgestellt. Außerdem wurde ein Therapieplan für mich aufgebaut. Jeden Morgen bekam ich einen Tagesplan mit meinen Terminen und Aufgaben für den Tag. Außerdem musste ich jeden Abend aufschreiben wie es mir den Tag über ging und was ich so gemacht habe. Ein paar dieser Tagespläne möchte ich euch mal aufschreiben.
28.06.00
8:00 Uhr: Aufstehen und Frühstücken
8:30 Uhr: Frühsport (entweder in der Halle oder auf dem Gelände der Klinik z.B. joggen, Ballspiele, klettern....)
9:00 Uhr: Übungsgruppe (basteln, malen, Arbeitsblätter....)
10:00 Uhr: Ergotherapie (töpfern, spielen....)
11:00 Uhr: Maltherapie
12:00 Uhr: Mittagessen mit der Gruppe
bis 15:00 Uhr: Mittagsruhe (in den Zimmern beschäftigen)
16:00 Uhr: Kaffeetrinken
bis 18:00 Uhr: Freizeit (spielen, Sport, basteln....)
18:00 Uhr: Abendbrot
bis 22:00 Uhr: Beschäftigung (Fernsehen, spielen....)
30.06.00
Dies ist ein Tagesplan von einem Tag an dem es mir nicht so gut ging.
8:00 Uhr: Aufstehen, Frühstücken
8:30 Uhr: Frühsport
9:00 Uhr: Krankengymnastik
10:00 Uhr: Kekspause (Treffen der gesamten Gruppe zum 2. Frühstück)
11.30 Uhr: Zimmerpause ( Ruhepause für mich allein im Zimmer mit ausfüllen eines Stimmungsbarometers)
12:00 Uhr: Mittagessen
bis 15:00 Uhr Mittagsruhe
16:00 Uhr: Kaffeetrinken
bis 17:30 Uhr: Freizeit
ab 17:30 Uhr: Zimmerpause (Gespräch mit Einzelbetreuerin)
18:00 Uhr: Abendbrot
19:30 Uhr: Zimmerpause
22:00 Uhr: Nachtruhe
Stimmungsbarometer von dem Tag:
8:30 Uhr: fröhlich, glücklich, gespannt (Situation: Besuch einer Freundin)
12:30 Uhr: sauer, traurig, gespannt (Situation: Stress mit mir selbst)
17:30 Uhr: aufgeregt, glücklich, gespannt (Situation: Telefonat mit einer Cousine)
19:30 Uhr: traurig, schlapp, müde ( Selbstverletzung nach Psychischem Sturz)
Jeder Tag in der Kinder- und Jugendpsychiatrie lief eigentlich gleich ab. Vormittags und Nachmittags waren meist Therapieprogramme, die restliche Zeit wurde in der Gruppe verbracht. Zwischendurch wurden auch Aktivitäten unternommen, dazu zählten, Besuche im Zoo, Einkäufe im nahen Supermark, besuche des Expogeländes ''Erde'', Ausflüge auf Spielplätze und in Kurgärten zum Schwimmen.
Jedes Kind dort hatte seinen Einzelbetreuer/in. Ich kam mit meiner Betreuerin sehr gut klar. Zwischendurch hatten wir mal Auseinandersetzungen, aber das ist normal.
Die meiste Zeit über durfte ich mit 2 anderen Mädels im großen Zimmer schlafen. Nur einige Wochen habe ich im Einzelzimmer verbracht. Aber diese Wochen waren nicht gut. Ich wurde alle paar Stunden durchsucht, und durfte nicht allein auf die Toilette oder duschen, da die Betreuer angst hatten ich würde mir was antun. In meinem Zimmer durfte ich zu der Zeit Tagsüber nur ein Buch haben, und die Sachen die ich anhatte, da ich selbstmordgefährdet war. In der Zeit ging es mir richtig dreckig. Ich hatte keine Freunde mehr und auf der Station auch nur Stress.
Mit einigen Betreuern/innen kam ich absolut nicht klar. Sie verstanden mich und meine Probleme überhaupt nicht. Das hat mich sehr wütend gemacht. Es gab viele Tage an denen ich schreiend und schlagend aus dem Zimmer gerannt bin.
Die Nächte in der Einrichtung waren für mich die Hölle. Nachts kamen die Erinnerungen und die Bilder wieder hoch. Ich dachte an mein Leben und verstand oft den Sinn nicht. In solchen Nächten fanden mich die Betreuer oft weinend und verletzt in irgendwelchen Ecken und Räumen wieder. Ich weiß selbst nicht warum. Das einzige was mir in solchen Momenten geholfen hat war das Reden mit den Psychologen. Es war sowieso komisch. Während der Therapie, bei irgendwelchen Gesprächen konnte ich irgendwie nicht reden. Ich hatte Angst davor, panische Angst. Aber nachts, wenn es mir dann richtig schlecht ging, dann klappte es.
Die Zeit dort hat mir Therapiemäßig überhaupt nichts gebracht. Ich hatte hinterher keine Verbesserung. Ich hatte sogar in manchen Bereichen noch mehr Schwierigkeiten. Ich hatte z.B. große Probleme in der Klassengemeinschaft wieder aufgenommen zu werden. Außerdem kam ich danch mit mir noch weniger klar. Ich verstand mein Verhalten und mein Benehmen nicht, da mir von den Ärzten nie gesagt wurde, was für eine Diagnose ich denn nun hatte.
Erst 4 Jahre später bekam ich den Arztbericht in die Hände. Darauf stand die Diagnose Borderline. Ich glaube, wenn ich es ehr gewusste hätte und ehr mir einen ambulanten Therapieplatz hätte suchen können, wäre vieles nicht so passiert, wie es jetzt passiert ist.
Heute weiß ich mit mir und der Krankheit umzugehen. Früher habe ich einfach nichts verstanden. Ich habe mich und meine Gefühle nicht gekannt. Heute kenn ich mich und meine Gefühle. Heute kann ich sagen, es geht mir gut, es geht mir nicht gut. Aber dafür habe ich 4 Jahre gebraucht. Obwohl mir die Zeit dort nicht viel gebracht hat, bin ich trotzdem froh dort gewesen zu sein. Ich habe für mich einige Sachen gelernt, und Menschen getroffen die mir viel gezeigt haben. Aber ich weiß eines, ich habe mich dort sehr wohl gefühlt, denn dort konnte ich sein wie ich bin. Nicht die starke, mutige sondern die nachdenkliche, traurige, die nicht mehr kann. Ich war dort irgendwie auch geschützt. Geschützt vor den Menschen dir mir weh taten, und auch ein bißchen geschützt vor mir. Denn in der Zeit tat ich mir nicht gut, das weiß ich.
Aber eines habe ich in der Klinik gelernt.
Ich habe gelernt zu kämpfen. Ich kämpfe für ein besseres Leben, ich kämpfe für mich. Denn heute weiß ich, das ich jemand bin, das ich wertvoll bin.
Meine Zeit in der Klinik! Der Wunsch, wieder in eine Klinik zu gehen kam recht Spontan. Eigentlich habe ich mich dazu nur entschlossen, weil es mir psychisch einfach nicht gut ging. Die Entscheidung, mich für eine Klinik anzumelden, kam während eines Freiwillen Jahres in einer Einrichtung für behinderte Kinder und Jugendliche. Eigentlich gefiel mir die Arbeit dort sehr gut. Ich kam mit den Kindern gut klar, und eigentlich auch mit den anderen Mitarbeitern, und doch merkte ich, dass es so nicht mehr ging. Ich fühlte mich einsam, traurig, allein und total verletzt. Einen wirklichen Auslöser gab es dafür nicht. Es war mehr eine spontane Entscheidung. Ich habe mir mein Leben und vor allem meine Zukunft angeschaut und festgestellt, dass ich endlich glücklich sein wollte. Aber so wie ich in dem Zeitraum lebte, war ich nicht glücklich. Ich wollte endlich genauso sein wie all die anderen. Zuerst habe ich mich übers Internet informiert, welche Kliniken es in Norddeutschland gab. Ich habe mich damals bewusste für Niedersachsen entschieden, da ich mir gewünscht habe, dass meine Freunde mich Besuchen konnten. Schließlich habe ich mich für eine Klinik entschlossen, die mir damals in der Kinderpsychiatrie schon empfohlen wurde. Natürlich habe ich meinen Eltern erst etwas davon erzählt, nach dem die Anmeldung schon weg war, schließlich hatte ich Angst sie würden mir diese Idee ausreden. Eigentlich hatte ich damals gehofft, dass freiwillige Jahr noch beenden zu können, aber dann kam ganz überraschen an einem Mittwoch Nachmittag der Anruf de Stationsarztes. Wenn ich wollen würde, könnte ich am Montag mit der stationären Therapie anfangen. Also musste ich von heute auf morgen meine vertraute Umgebung, meine Familie und meine Freunde verlassen. Leicht gefallen ist es mir nicht, schließlich fing für mich so ein Neuanfang an. Ich hatte Angst davor, die gewohnten Kontakte zu verlieren und noch mal neu anfangen zu müssen, aber doch freute ich mich auf die Möglichkeit mein Leben zu ändern. So führ ich am folgenden Montag mit meinen Eltern zur Klinik und ließ mich einweisen. Die ersten Tage waren für mich sehr hart. Ich vermisste meine Familie und meine Freunde, und fühlte mich dort sehr einsam und unverstanden. Ich hatte Angst. Nicht nur Angst, mich zu verändern, sondern auch Angst davor, wieder in die Außenseiterrolle zu gelangen. Genau dort wollte ich doch raus. Die Anpassung an die anderen Jugendlichen fiel mir eigentlich recht leicht. Ich merkte schnell, dass wir alle Menschen mit verschiedenen Problemen waren und dass niemand von uns eigentlich wirklich anders war. Einige Patienten dort hatten ähnliche Probleme wie ich und ich merkte schnell, dass man in einer Gruppe viel leichter voran kommt, als allein. Ich schloss sehr schnell mit einigen Freundschaft und genoss zum Teil auch die Gespräche mit ihnen. Die Anpassung an die Regeln und die Erzieher fiel mir da etwas schwerer. Ich war 18 Jahre alt, hatte vieles in meinem Leben allein gemeistert und konnte einfach nicht verstehen, wieso ich auf einmal nicht mehr für mich selbst verantwortlich war. Klar, ich hatte über mich noch das Recht zu bestimmen, aber trotzdem gab es Regeln und Pflichten die für mich schwer einzuhalten waren. Nach einiger Zeit wurde mir meine Therapeutin vorgestellt und ich merkte gleich, dass ich mit ihr einfach nicht klar kommen würde. Vielleicht lag es nicht wirklich an ihr, sondern eher an meiner Eigenschaft fremde Hilfe schlecht annehmen zu können. Ich war immer noch auf dem Trip, dass ich alles allein schaffen würde. Ich war kein Mensch, der offen über seine Probleme reden konnte. Ich brauchte Hilfestellung, Menschen die fragten und niemanden, der auf einen Anfang von mir wartete. Ich merkte recht früh, dass ich mit dieser Therapeutin einfach nicht weiter kommen würde, und doch musste ich mich mit ihr arrangieren. Daher waren unsere Therapiestunden meist eher ruhig und oft ging ich erst gar nicht hin. Mit den Erzieherin hatte ich dort weniger Probleme. Klar, mit einigen stritt ich mich auch mal, aber mit bestimmten konnte ich auch einfach sehr gut reden. Ich genoss die ersten Monate dort sehr. Ich fühlte mich aufgehoben und sicher, denn es war wie unter eine Glasglocke. Ich war abgeschirmt von der anderen Welt und auch ein wenig getrennt von bestimmten Problemen. Klar, wer nicht in die Welt hinausgeht hat auch keine Probleme mit ihr. Aber irgendwann war es dann soweit, dass ich raus musste. Nicht nur zur Schule, sondern auch für einfach Ausflüge. Genau das war der Momente wo ich wirklich merkte wie lang ich mir selbst etwas vorgespielt hatte. Klar, wenn ich nicht in die Stadt ging, hatte ich auch keine Probleme damit. Ich habe mich Jahrelang selbst angelogen. Ich habe mir vorgespielt meine Probleme wären schon nicht so schlimm, dabei waren sie schlimm. Ich bin zu Hause nie in die Stadt gegangen, weil ich genau wusste dass es nicht ging. So bin ich meinen Problemen aus dem Weg gegangen und so stürzten sie dann in der Klinik wieder auf mich ein. Ich merkte von heute auf morgen wie es mir auch einmal wieder schlechter ging. Ich fing wieder an mich selbst zu verletzten und auch die Sucht nach dem Erbrechen war wieder da. Ich ekelte mich vor mir selbst und wusste doch nicht wie ich es ändern sollte. Ich fand nicht den Mut mit meiner Therapeutin darüber zu reden und gegenüber den Erziehern war es mir einfach total peinlich. Ich war doch dort damit es mir besser ging. Ich verstand mich selbst nicht mehr, meine Gefühle und meine Ängste fielen über mich hinein und ich verschwand hinter einer dichten Wand aus Lügen. Ich versuchte mein selbst verletzten zu verbergen, niemanden etwas merken zu lassen, ich spielte allein wieder vor dass es mir ja so gut ging. In Wirklichkeit hätte ich Schreien können. Doch wie sollte man mich hören wenn mein Mund doch verschlossen blieb. Natürlich merkten die Betreuer schnell dass etwas mit mir nicht stimmte. Ich zog mich zurück, wollte nur allein sein und wusste doch selbst nicht wirklich was ich wollte. Klar wollte ich Hilfe, ich wollte etwas ändern, ich wolle mich verändern, aber den Mut nach Hilfe zu fragen, den hatte ich einfach nicht. Irgendwann kam alles raus. Mein verletzten, meine Sucht nach dem Erbrechen, mein heimliches Alkohol trinken und die ganze Schauspielerei. Es fiel alles zusammen wie ein Kartenhaus. Das war der Tiefpunkt in meinem Leben. Ich konnte nicht mehr und ich äußerte zu dem Zeitpunkt häufig den Wunsch nicht mehr leben zu wollen. Nun merkte ich erst, wie schlecht es mir doch wirklich ging. Wie lange ich hatte alles verstecken müssen. Nachts kamen Erinnerungen hoch, ich wachte weinend auf und wusste nicht mehr weiter. Ich wollte so nicht mehr leben und doch konnte ich immer noch keine Hilfe annehmen. Es war einfach schwer für mich zu begreifen wer ich eigentlich war. Ich hatte mir selbst so viele Jahre etwas vorgestellt, dass ich oft an der Grenze zwischen Realität und Vorstellung zerbrach. In meiner Vorstellung war alles in bester Ordnung. Ich hatte Freunde, war beliebt, immer gut drauf und nie Traurig. Doch in Wirklichkeit war ich einsam, verletzt, zerstört, verlassen, verzweifelt, verängstigt. Ich schwankte oft zwischen Realität und Vorstellung und genau das tat so verdammt weh. Ich hatte mich selbst geschützt, in dem ich nur in meiner Vorstellung lebte. Ich schloss die Realität aus und musste in der Klinik erst wieder lernen, die Realität zu akzeptieren. Es kamen Gefühle in mir hoch, die ich nie in mir erwartet hätte, Erinnerungen die ich nie wieder sehen wollte und Gedanken die mir sehr wehtaten. Doch heute glaube ich, dass dieser Momente einfach irgendwann kommen musste. Damals war ich einfach nur froh, dass dieser Moment in der Klinik war. An einem Ort wo ich mich geborgen fühlte und wo Menschen mich auffangen konnte. In der Zeit bekam ich auch Medikamente. Ich weiß nicht welche und ich weiß auch nicht mehr wie viele, ich weiß nur dass sie mir sehr halfen. Nach diesem Zusammenbrauch hoffte ich, dass alles besser werden würde. Ich fühlte mich am Tiefpunkt und hoffte auf eine starke Veränderung. Doch ich war damals so tief unten, dass es sehr lange dauerte bis ich überhaupt eine Veränderung feststellen konnte. Ich glaubte damals an einen großen Schlag, der alles verändern würde, doch in Wirklichkeit kamen die Veränderungen sehr langsam und kaum erkennbar. Mein schlimmstes Problem damals war der Drang nach dem Selbstverletzten. Es gab mir Halt, Kraft und die Sicherheit noch zu leben. Ich fühlte keinen Schmerz sondern einfach nur Freiheit. Ich genoss es, dass Blut zu sehen und mir selbst einfach nur Schaden zuzufügen. Klar wusste ich, dass diese Methode nicht richtig war und doch tat ich es immer wieder. Die Erzieher und Ärzte versuchten alles um mich davon abzuhalten. Ich konnte reden wann ich wollte, bekam Medikamente und viele verschiedene Therapien. Doch das Verletzten war ein Halt für mich. Etwas, dass nur ich bestimmen konnte und das niemand mir wegnehmen konnte. Ich wollte mich selbst bestrafen. Wofür, dass wusste ich einfach nicht. Aber es tat mir gut und nur das war in der Zeit für mich wichtig. Natürlich merkte ich auch irgendwann, dass mir auch bestimmte andere Sachen sehr gut taten. Ich redete viel mit den anderen Jugendlichen und hatte einige Therapien, die mir sehr halfen. Ich ging oft mit einer anderen Patientin zum „Kneipen“. Das war ein Schmerz, der zwar weht tat, aber keine Wunden hinterließ. Außerdem zog ich mich oft in die Natur zurück, wenn es mir schlecht ging. Die Grünanlage dort war total schön. Oft ging ich in den Wald, oder an den Bach und genoss einfach nur die Zeit. Auch der Unterricht in der Klinikschule war einfach gut für mich. Ich merkte, dass ich nicht dumm war, dass ich was konnte und dass mich andere nach meiner Hilfe fragten. Und doch fühlte ich mich immer anders dort. Klar, jeder der dort wohnte, war anders, aber ich fühlte mich immer wieder allein und einsam. Meine Freunde und Familie waren so weit weg und oft verstand ich mich auch einfach selbst nicht. Gerade wenn es um gemeinsame Aktivitäten ging, fiel ich oft aus der Rolle. Vor vielen Sachen hatte ich einfach Angst. Ich war dort die dickste, und fürchtete oft, einfach nicht Schritt halten zu können mit den anderen. Außerdem merkte ich, dass ich nicht immer Leute um mich haben konnte, genauso aber fürchtete ich die Einsamkeit. Ich verzog mich oft in meinem Zimmer, und vor allem gegen Abend kamen dann die Erinnerungen. Oft reichte ein Streit mit den anderen aus, um mich total aus der Bahn zu werfen. Jetzt aber weiß ich, dass es gut war, dass ich genau dort erfahren habe, wie ich wirklich bin. Wer ich wirklich bin. Ich war jemand anderes, als ich immer gedacht habe. Ich glaubte ein starker, selbstbewusster, lustiger Mensch zu sein und dort merkte ich, dass ich eigentlich klein, ängstlich und schüchtern war. Ich lebte dort so, wie ich wirklich war. Ich entdeckte Seiten an mir, Verhaltensweisen, die ich nicht kannte. Dort aber konnte ich sie leben. Dort verlangte niemand dass ich mich verstellte. Die Tage in der Klinik verliefen eigentlich alles gleich. Morgens ging ich in die Schule und Nachmittags waren die Therapien. Und doch gab es Momente die ich sehr genossen habe. Wir waren Jugendliche, die genau das taten, was andere in unserem Alter auch taten. Wir schmuggelten Alkohol in die Klinik und tranken ihn zusammen, wir ärgerten die Erzieher oder trafen uns einfach nachts heimlich in irgendwelchen Zimmern. Oft erschien mir die Atmosphäre wie in einem Ferienlager. Und doch war alles irgendwie anders. Jeder Bewohner hatte seine eigenen Probleme und oft verliefen die Tage auch einfach nur langsam, vor allem wenn es den meisten nicht wirklich gut ging. Ich gewöhnte mich sehr schnell an den Klinikalltag und vor allem an die Erzieher. Ich kam mit den meisten sehr gut klar und doch gab es wie überall auch oft Streit. Ich fühlte mich so erwachsen und gar nicht mehr Kind. Ich wollte selbst entscheiden und genau das tun, wozu ich Lust hatte. Viele Probleme erzählte ich den Erziehern erst gar nicht, weil ich der Meinung war ich würde auch selbst damit klar kommen. Klar, dass ich mit der Einstellung irgendwann auf die Schnauze flog. Von Tag zu Tag wurde es besser mit mir. Ich vertraute mich meiner Therapeutin an und kam mit den anderen sehr gut klar. Deshalb entschieden die Ärzte dass ich endlich in die Außenschule gehen konnte. Ich hatte zu der Zeit meinen Realschulabschluss schon in der Tasche, träumte aber von einem qualifizierten Abschluss. Daher beschlossen wir, dass ich ab dem Juni in die Volkshochschule der Stadt gehen sollte. Zu erst hatte ich total bedenken davor. Ich war fremd unter den Leuten und hatte riesige Angst davor, wieder in die Außenseiterrolle zu rutschen. Daher zögerte ich die ersten Tage einfach hinaus. Ich fühlte mich einfach nicht stark genug. Ich wollte nicht in die normale Welt. In der Klinik war es wie in einer großen Glasglocke. Man war von allen anderen geschützt, von der Außenwelt abgeriegelt. Und dann sollte ich einfach wieder hinein. Aus dem geschützten Klinikalltag in die große, weite Welt. Am ersten Schultag begleitete mich mein Bezugserzieher in die Schule. Das Gebäude war zwar nicht recht groß, und doch flößte es mir irgendwie Angst ein. Die vielen Menschen, die vielen Jugendlichen und ich ganz allein. Die Klasse, in die ich kam war eine sehr chaotische Klasse. Die ganze Volkshochschule war für mich chaotisch. Der erste Tag verlief dann allerdings ganz normal. Die Schüler dort waren es schon gewohnt immer mal wieder Patienten aus dem Landeskrankenhaus zu bekommen, daher gliederten sich mich gut in die Klasse mit ein. Kontakt allerdings bekam ich erst in den nächsten Tagen zu ihnen. Zu meinem Glück war eine meiner Klassenkameradin eine ehemalige Patientin des LKH’s, daher kannte sie die Situation in der ich war. Sie erklärte und zeigte mir alles und stellte mich ihren Freundinnen vor. Dafür bin ich ihr noch heute dankbar, denn seit dem, habe ich zwei super liebe Freundinnen, mit denen noch heute sehr enger Kontakt besteht. Ich weiß manchmal nicht, was ich ohne diese beiden getan hätte. Im Laufe der Zeit gewöhnte ich mich an die Klasse und an den Unterricht. Allerdings war es für mich eine schwere Umstellung. Das Unterrichtsniveau war so niedrig, dass ich nie lernen brauchte und trotzdem mit Klassenbeste war. Daher kam es auch oft vor, dass ich einfach den Unterricht schwänzte. Natürlich bekamen die Erzieher das raus, aber großen Ärger gab es zum Glück nicht. Jeder wusste, welches Niveau die Schule hatte und daher war es für die verständlich wenn man es dort nur ein paar Stunden aushielt. Ich war froh, so leicht an meinen Abschluss zu kommen. Ich lernte zwar gern, aber so war es für mich natürlich noch leichter. Die Tage vergingen und ich kam von Tag zu Tag besser mit mir klar. Ich verstand endlich, warum ich so war wie ich war. Das einzige was ich an der Therapie gehasst habe, waren die Gespräche mit meinen Eltern. Sie kamen mich zwar regelmäßig besuchen, aber trotzdem wurden sie in bestimmten Abständen zu Gesprächen eingeladen. Ich konnte und wollte damals nicht mit ihnen reden. Ich fühlte mich so schuldig, so anders. Ich merkte wieder, wie sehr ich nicht in diese Familie passte. Ich hatte Schuldgefühle, weil ich ihnen Zeit und Geld kostete. Das Verhältnis zu meinen Eltern war in der Zeit nicht wirklich gut. Selbst wenn wir allein waren redete ich nicht viel. Ich wollte ihnen einfach nichts von der Therapie erzählen, wollte nicht dass sie sahen wie ich wirklich war. Ich hatte Angst mein Schein zu verlieren. Ich wollte doch eigentlich die perfekte Tochter sein und war es einfach nicht. Ich genoss zwar die Wochenenden mit ihnen, aber war ich auch froh danach wieder allein zu sein. Im Laufe der Monate bekam ich immer wieder neue Zimmernachbarinnen. Mit vielen von ihnen kam ich sehr gut klar. Wir redeten viel und unternahmen die verschiedensten Dinge. Ich genoss es zwar, manchmal allein auf dem Zimmer zu sein, aber gerade nachts war ich froh, dass jemand zum reden da war. Zwar konnte ich auch mit den Nachtwachen reden, aber so von Mädchen zu Mädchen geht es doch leichter. Eigentlich hätte es mir damals richtig gut gehen können, und doch kam wieder ein Absturz. Wir waren gegen Abend mit einem Erzieher und ein paar Jugendlichen auf der Kirmes. Eigentlich gehe ich gern zu so was, ich liebe die Fahrgeschäfte und vor allem die vielen Spielbuden haben mir immer sehr gefallen. Doch an dem Tag war es irgendwie anders. Der ganze Tag war eigentlich recht gut verlaufen. In der Schule war alles gut und auch auf der Station hatte ich keine Probleme. Doch der Besuch der Kirmes warf mich weit zurück. Wir waren ca. 6 Jugendliche, liefen in Kleingruppen durch die Gegend und einige benutzen auch die Fahrgeschäfte. Ich selbst schaute zwar gern zu, stieg aber nur selten mit ein. Ich merkte nicht, wie meine Stimmung sank. Erst in dem Moment, in dem alle anderen in den Fahrgeschäften waren, und ich allein zwischen den vielen Leuten stand merkte ich, dass es nicht mehr ging. Ich fühlte mich allein, anders und von allen beobachtet. Ich hatte früher schon Probleme damit gehabt, dass ich glaubte alle würden mich anschauen und schlecht über mich denken. Aber an dem Abend war es so extrem wie noch nie. Ich fühlte mich wie in den Mittelpunkt gestellt, wie ein Gespött der Menschheit. Ich merkte wie in mir die Angst hoch stieg. Ich schaute mich um und glaubte jeder würde mich anschauen. Ich spürte, wie sich ihre Blicke in meinen Rücken bohrte. Ich hörte ihre schlechten Meinungen über mich. In dem Momente war es für mich zu viel. Ich wollte weglaufen, mich vor den nächsten Zug werden oder von irgendeiner Brücke springen. Und doch tat ich es nicht, weil ich Angst vor dem Ende hatte. Ich verkroch mich einfach hinter einer Bude und wartete ab, bis unsere Gruppe wieder zum Auto ging. Erst dann ging ich wieder zu ihnen. Die ganze Rückfahrt über war ich am weinen. Ich fühlte mich schlecht. Ich konnte selbst nicht beschreiben was in mir vorging. Ich glaube, alle schlechten Gefühle und Erinnerungen der letzten 8 Jahre brachen auf einmal aus. Ich hatte Angst, fühlte mich einsam, schuldig, dreckig und anders. Ich merkte wie in mir alles zusammen fiel. Ich sah das tiefe, schwarze Loch und einfach keinen Ausweg mehr. In der Klinik angekommen ging ich gleich auf mein Zimmer. Zu der Zeit hatte ich zum Glück ein Einzellzimmer. Ich weiß selbst nicht, was in dem Moment über mich gekommen ist. Ich wollte mich nicht umbringen. Ich wollte mir einfach nur wehtun. Mich bestrafen. Ich fühlte keinen Lebenswillen mehr, und hasste mich selber dafür, dass ich nicht Schluss machen wollte. Ich griff zur Rasierklinge. Ab da an verschwindet meine Erinnerung hinter einem grauen Nebel. Ich weiß nur noch, dass ich die Klinge so stark auf mein Handgelenk drückte wie ich konnte und einfach nur schnitt. Das nächste woran ich mich erinnern kann ist, dass ich auf meinen Knochen sehen konnte. Ich wickelt mir ein Handtuch ums Handgelenk und lief panisch zu den Erziehern. Dort brach ich direkt vor ihnen zusammen. Ich konnte nicht wirklich etwas sagen. Ich weiß nur, dass ich immer nur stammelte „ ich wollte dass nicht, nicht so schlimm. Es sollte nicht so enden.“ Die Erzieher brachten mich ins Behandlungszimmer und riefen den Rettungswagen. Der brachte mich ins Krankenhaus, wo der Schnitt genäht wurde. Von da aus durfte ich wieder zurück in die Klinik. Normalerweise musste man nach so einer tiefen Verletzung auf die geschlossene Station, wegen dem Verdacht auf versuchten Selbstmord. Bei mir allerdings merkten und wussten die Erzieher, dass ich nicht wirklich sterben wollte. Ich habe mich selbst total erschrocken, als ich die Wunde sah. Ich wollte es nicht und noch heute bereue ich diesen Moment. Danach ging es mir die nächsten Tage gar nicht gut. Ich lag nur im Bett und war oft am weinen. Ich fühlte mich wieder so dreckig, merkte dass ich wieder alles falsch gemacht hatte. Natürlich fragten mich die Erzieher, warum ich nicht mit ihnen geredet habe, warum ich mich statt dessen lieber verletzte habe. Ich weiß es selbst nicht. Ich glaube es lag einfach daran, dass ich oft nicht reden konnte. Für mich war es schwer von mir aus den Anfang zu machen. Ich hoffte immer darauf, dass die anderen mir ansahen dass ich reden wollte. Natürlich geht so was nicht. Aber oft hatte ich das Gefühl, ich müsste schreien, und konnte einfach nicht. Ich hoffte in solchen Momenten dass die Menschen um mich herum sahen wie schlecht es mir ging. Ich habe so viele Jahre gelernt, mit mir allein klar zu kommen, dass ich nicht einfach zu jemandem hingehen konnte und nach Hilfe fragen konnte. Ich wollte doch alles allein schaffen. Auch meine Gefühle gegenüber meinen Erziehern hielten mich davon ab. Ich weiß heute kaum, wie ich es beschreiben soll. Es war eine Mischung zwischen Angst und Mögen, dass ich gegenüber meinem Bezugserzieher und den anderen männlichen Erziehern empfand. Zum einen hatte ich oft Angst mit einem von ihnen allein zu sein. Es war nicht die Angst davor, dass sie mir etwas taten, es war eine Angst ohne Hintergrund. Ohne Warum. Ich fühlte mich einfach nicht wirklich wohl wenn ich mit einem von ihnen allein war. Andererseits war es eine Art von „mögen“. Ich kannte Männer zuvor nur als Vorgesetzte, oder als solche mit denen ich im Bett war. Männer, die an mir kein Interesse hatten. Ich kannte es einfach nicht, dass sich ein Mann für mich interessiert. Nicht die Art von Interesse zwischen Mann und Frau, sondern die Art, dass es jemanden interessiert wie es mir ging. Ich kannte es nicht dass jemand wirklich wissen wollte wie es mir ging. Ich war es gewohnt, nur als Objekt betrachtet zu werden. Und dort merkte ich, dass sich die männlichen Erzieher dafür interessierten wie es mir ging, ob ich Probleme hatte oder ähnliches. Das war neu für mich. Es war so neu, dass ich anfing, die Erzieher zu mögen. Es war ungewohnt, dass ein Mann nett zu mir war, ohne das er dafür was wollte. Klar, es gab auch Männer in meinem Leben, die nichts von mir wollten, aber in den letzten Jahren überwog halt die Erfahrung, dass sich jemand nur für mich interessiert, weil er dafür etwas bekam. Also fing ich an die Erzieher zu mögen. Nicht mögen wie zwischen zwei Freunden, schon gar nicht lieben. Aber ich wollte ihnen imponieren. Ich wollte vor ihnen stark sein und genau das hinderte mich oft daran normal mit ihnen zu reden. Männer, die Interesse an mir hatten, wirkliches Interesse, denen wollte ich gefallen. Denen wollte ich zeigen, wie stark ich bin, wie selbstsicher. Das war ein sehr großer Fehler. Es war nicht so, dass ich gar nicht mit ihnen reden konnte, aber die Unbefangenheit fehlte. Ich überdachte jeden Satz und überlegte oft wie viel und was ich ihnen sagen sollte. Ich wollte nicht, dass sie merkten wie es mir doch tatsächlich ging. Ich wollte schauspielern. Ich merkte nicht, wie ich mir selbst damit im Weg stand. Nach diesem Tiefpunkte merkte ich schnell dass ich an einer Grenze angelangt war. Ich wollte eine Therapie machen, und doch konnte ich einfach nicht mehr. Ich fühlte dass es nicht mehr ging. Das ich keine Kraft mehr hatte und mir selbst meine letzte Chance kaputt gemacht habe. Die Klinik war für mich meine letzte Chance. Ich war Erwachsen, ich wollte endlich eine Ausbildung machen und ein normales Leben haben. Da war die Klinik für mich die letzte Chance. Wenn ich es nicht packen würde, hätte ich es für den Rest meines Lebens vertan. Die letzten 2 Monate in der Klinik verliefen für mich nicht mehr wirklich gut. Ich versuchte zwar, mich in der Therapie anzustrengen, wurde vielleicht auch ein bisschen offener doch hatte ich innerlich schon mit allem abgeschlossen. Ich sah eine düstere Zukunft vor mir. Ich stellte resigniert fest, dass ich mal wieder versagt hatte.